Jazzbericht 2024
Diversität, Teilhabe, Vielfalt & Chancen
Chancengleichheit und Gleichberechtigung, der Abbau von Zugangsbarrieren und offene sowie unterschwellige Diskriminierungen sind anhaltende Themen in der Jazzszene in Deutschland. Oftmals sind Stichworte wie „Teilhabe“, „Nachhaltigkeit“ oder „Vielfalt“ Auslöser für kontrovers geführte Debatten. Doch wirklich verwurzelt sind all diese Aspekte noch immer nur partiell, die Auswirkungen der über Jahrzehnte gelebten Stigmatisierungen und Rollenbilder lösen sich nur langsam auf.
Gender Equality
Diese Vermutung bestätigen jüngste Jazz- und Musikstudien. Dabei ist zu beachten, dass viele der vorliegenden Studien nur die binäre Unterteilung Mann/Frau abfragen, und selbst wenn die Frage nach „divers“ gestellt wurde, die hierfür erhobenen Daten selten statistisch relevant sind. Der vorliegende Text arbeitet mit den aus den Studien zu entnehmenden Daten.
Die „Jazzstudie 2022“ der Deutschen Jazzunion liefert umfassende Einblicke in die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Jazzmusiker:innen in Deutschland, unter anderem zur prekären Einkommenssituation, Altersarmut und den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Die Jazzstudie verzeichnet einen Anstieg des Frauenanteils unter den befragten Jazzmusiker:innen: Im Jahr 2016 lag der Anteil der Frauen unter den Befragten bei 18 Prozent, sechs Jahre später bereits bei 27 Prozent. Mit 38 Prozent ist in der „Jazzstudie 2022“ der größte Frauenanteil in der Altersgruppe „31–40 Jahre“ zu verzeichnen. Der Anteil der Befragten, die „Andere Angaben“ als „Frauen“ oder „Männer“ machten, blieb im Vergleich zur Jazzstudie 2016 unverändert bei gut einem Prozent.
2023 unterfütterte das Deutsche Musikinformationszentrum (miz) die Datenbasis mit der Studie „Professionelles Musizieren in Deutschland“, eine Repräsentativbefragung zu Erwerbstätigkeit, wirtschaftlicher Lage und Ausbildungswegen von Berufsmusizierenden. Frauen sind vor allem in der klassischen Musik aktiv, überdurchschnittlich oft auch in der Kirchenmusik: Während 66 Prozent der Berufsmusikerinnen in der Klassik tätig sind, sind es bei den Männern nur 45 Prozent. Umgekehrt finden sich Männer überproportional oft im Genre der populären Musik: 62 Prozent der Männer, aber nur 46 Prozent der Frauen machen (auch) populäre Musik. Der Jazz verzeichnet einen geringeren Frauen- als Männeranteil.
Ausgeübte Musikgenres nach Geschlecht
Frage: Auf dieser Liste stehen verschiedene Musikrichtungen bzw. Musikgenres. In welchem bzw. welchen dieser Bereiche machen Sie professionell Musik, wo würden Sie sich einordnen?
Besonders deutlich zeigt sich die Ungleichverteilung bei gut bezahlten, institutionalisierten Positionen, zum Beispiel bei Instrumentalprofessuren sowie in den Bigbands des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Erst 2018 wurde die Schlagzeugerin Eva Klesse als erste Frau zur Instrumentalprofessorin an eine deutsche Musikhochschule berufen. Seitdem sind zwei weitere Instrumentalprofessuren mit Frauen besetzt worden. In den vier Bigbands des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind derzeit nur zwei von insgesamt 66 Stellen von Frauen besetzt. Diversität im Sinne von Vielfalt und Vielfältigkeit bezogen auf bestimmte gesellschaftliche und soziale Gleichheiten und Ungleichheiten wäre ein wichtiger, gar zentraler Baustein. Dadurch ließen sich Positionen aktiv mit Personen besetzen, die nicht nur musikalisch, sondern auch persönlich für die Vielfalt der Jazzszene und für das im Jazz eigentlich charakteristische Hinterfragen von Strukturen stehen.
Mit Queer Cheer hat sich 2022 erstmals eine Gruppe im Jazz gegründet, die queeren Personen der Szene einen Raum für Austausch und Zusammenhalt bietet. Die Auszeichnung mit dem Deutschen Jazzpreis 2023 in der Kategorie „Sonderpreis der Jury“ zeigt, dass versucht wird, queeren Anliegen in der Szene mehr Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen.
Gender Pay Gap
Das Thema „Gender Pay Gap“ war 2023 von anhaltender Brisanz. Zahlen und Fakten dazu lieferte 2023 unter anderem die oben genannte Studie des miz, „Professionelles Musizieren in Deutschland“. Zwar wird hier nicht explizit auf die Jazzszene eingegangen, aber es zeigt
1., dass jede:r zweite Profimusiker:in neben der Berufsmusik noch musikpädagogische Tätigkeiten ausübt, besonders häufig Frauen und ältere Berufsmusizierende, und
2., dass es, während 15 Prozent der Berufsmusiker über ein monatliches Nettoeinkommen von weniger als 1.500 Euro verfügen, bei den Berufsmusikerinnen 28 Prozent sind.
Im Durchschnitt verdienen Frauen mit einem persönlichen monatlichen Nettoeinkommen von durchschnittlich 2.210 Euro 24 Prozent weniger als Männer mit 2.890 Euro. Diese Zahlen müssen natürlich in die jeweiligen Kontexte eingebettet werden; unter anderem ist zu beachten, dass die unterschiedlichen Einkommen von weiblichen und männlichen Musizierenden auch daraus entstehen, dass Frauen nach Angaben der Künstlersozialkasse und Verdi weniger Erwerbsarbeit leisten als Männer. Statistisch gesehen arbeitet jede zweite Frau in Teilzeit.
Teilhabe
Elternschaft und Jazzmusiker:innen-Dasein lassen sich häufig nur schwierig vereinen. Darauf deutet die „Jazzstudie 2022“ hin, in der lediglich 38,7 Prozent der Befragten angaben, für die Kindererziehung zuständig zu sein. Frauen im Kunst- und Kulturbetrieb gaben in einer Pilotstudie der Bühnenmütter e.V. zu Arbeitsbedingungen allgemein an, große Schwierigkeiten damit zu haben, Familie und Beruf zu vereinbaren. Viele grundlegende Gegebenheiten künstlerischer Berufe lassen sich schwer mit Care-Arbeit oder Familienzeit vereinen, die traditionell noch immer häufig in Frauenhänden liegen: Konzerte finden meistens abends statt, privater Musikunterricht in der Regel nachmittags oder abends. Auf Tour zu gehen ist mit Kindern oft gar nicht möglich. Da es an geeigneter Unterstützung fehlt, ist die Musikbranche bzw. der Jazzmusiker:innen-Beruf ein sehr familienunfreundlicher. Es braucht geeignete Unterstützungsformate und Förderungen für Berufsmusiker:innen mit Kindern. Eine positive Entwicklung sei hier zu nennen: Seit 2022 besteht bei den Förderprogrammen der Initiative Musik erstmals die Möglichkeit, Kosten für Kinderbetreuung bei der Beantragung von Projektmitteln anzugeben.
Die Umfrageergebnisse der „Jazzstudie 2022“ deuten darauf hin, dass viele Jazzmusiker:innen einen gut situierten sozioökonomischen Hintergrund haben. 61 Prozent der Befragten kommen aus einem Akademiker:innenhaushalt. Bei der jüngeren Generation sind es sogar knapp 80 Prozent. Dass der Weg zum Jazz für die meisten Befragten im privaten Musikunterricht begann, zeigt ebenfalls, dass der Zugang und der weitere Werdegang im Jazz stark vom Elternhaus sowie von dessen finanziellen Möglichkeiten abhängt: Musikunterricht muss man sich leisten können. Durch die stetige Erhöhung von Musikschulgebühren ist zu erwarten, dass die Finanzierbarkeit von Musikunterricht für Familien weiter abnehmen wird. Einzelne Musikschulen planen, die Gebühren ab 2025 „massiv“ zu erhöhen. Beispielsweise kündigt der Musikschulverbund Espelkamp-Rahden-Stemwede eine Erhöhung um 20 Prozent, für 2026 ist eine weitere Erhöhung um drei Prozent vorgesehen. Nach der Möglichkeit zur größeren Teilhabe und geringen Zugangshürden klingen diese Aussichten nicht. Genaue Zahlen zu den klassistischen Strukturen und damit zusammenhängenden Zugangsbarrieren sowohl für die Ausübenden als auch das Publikum selbst zu erheben, ist dringend notwendig.
Ein weiteres, bisher nur am Rande und im Jazz beispielsweise weniger als im Pop beachtetes Thema ist die Frage nach Zugänglichkeiten für Menschen mit Behinderungen, auch hier wieder sowohl für die Musizierenden selbst als auch für das Publikum. Insbesondere die Spielstätten sind zu einem Großteil nicht barrierefrei gestaltet, was oftmals an fehlenden finanziellen Ressourcen liegt. Positiv ist in diesem Rahmen das 2022 durchgeführte Förderprogramm der Initiative Musik „Hilfsprogramm für Musiker:innen mit Behinderungen“ zu nennen.
Machtmissbrauch
Machtmissbrauch speziell an Musikhochschulen in Deutschland ist mittlerweile ein viel diskutiertes Thema. Die Plattform Musicmeetoo dokumentiert seit Längerem schon zahlreiche Fälle von Machtmissbrauch und Gewalt in der Musikbranche in Deutschland allgemein. Sie bietet Betroffenen einen Raum, in dem sie öffentlich über ihre Erlebnisse sprechen können. Auch im Jazz ist das gesamtgesellschaftliche Thema Machtmissbrauch vor allem in Unterrichtssituationen an Musikschulen und Musikhochschulen angekommen.
2023 beauftragte die Hochschule für Musik und Theater München (HMTM) das Institut für Praxisforschung und Projektberatung München, eine wissenschaftliche Studie zum Thema „Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexualisierte Gewalt an der HMTM“ zu erarbeiten. Im Rahmen dieser unabhängigen Studie wurde im Juni und Juli 2023 unter anderem eine Online-Befragung aller Hochschulangehörigen (Vollerhebung) umgesetzt. Ziel dieser Umfrage war es, „einen respektvollen Umgang miteinander zu fördern und dafür zu sorgen, dass alle Hochschulangehörigen mit einem guten Gefühl zum Unterricht und zur Arbeit kommen können“. Aus den quantitativen Daten lässt sich erkennen, dass 258 (54 Prozent) von 478 Befragten an der HMTM angeben, Machtmissbrauch selbst erlebt, gesehen oder davon gehört zu haben. 123 (25,7 Prozent) geben an, Machtmissbrauch selbst erlebt zu haben. 67 (14 Prozent) sind Zeug:in davon geworden und bei 161 (33,5 Prozent) wurde davon berichtet. Auch die Studierenden der Musikhochschulen in Deutschland zeigen sich aktiv. So hat der Freie Zusammenschluss von Student:innenschaften im November 2023 einen von der Szene viel beachteten „Forderungskatalog zur Prävention und Intervention von übergriffigem, unangemessenem und missbräuchlichem Verhalten an Musikhochschulen“ veröffentlicht.
Fazit
Dieser Text kann nur einen ersten allgemeinen Überblick über den Stand und die Entwicklungen zum Thema „Vielfalt & Chancen“ geben. Auf allen Ebenen ist Bewegung, doch ist noch viel zu tun. Eine stetige Sensibilisierung, Schulungen für Lehrpersonal, vertrauenswürdige Ansprechpersonen, die die Anliegen der Betroffenen ernst nehmen, sowie bauliche und organisatorische Maßnahmen – beispielsweise Einzelunterricht nur in Zimmern mit Fenstern in der Tür oder generell mehr weibliche Unterrichtende – sind notwendig für positive Veränderungen und Stabilisierung der Situation.
Ziele & Handlungsempfehlungen
- Mehr Aufklärungsangebote zu struktureller Diskriminierung und Diversitätsentwicklung
- Schulungen und verpflichtende Weiterbildungen für Lehrpersonal an Musikhochschulen
- Einrichtung einer Beschwerdestelle für Betroffene von Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexuelle Belästigung für die freie Musikszene
- Förderprogramme für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus Arbeiterfamilien
- Forschung zu Zugangsschwierigkeiten und Ausschlüssen bestimmter marginalisierter Personengruppe zum und im Jazz
- Einbeziehung von Diversitätsfaktoren bei der Besetzung von Professuren
- Förderung und Unterstützungsangebote für Eltern im Jazz – zum Beispiel Residenzen mit Kindern ermöglichen, zusätzliche Fördertöpfe für entstehende Mehrkosten bei Tourneen etc.
- Flexibilität für andere Lebensläufe, etwa bei den Altersgrenzen von Preisen und Förderprogrammen